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Nur fliegen ist schöner...

Ich erinnere mich an den ersten Moment, als ich die Schwerkraft hinter mir liess:

Nicht im Flugzeug, sondern im Kopf: ein Atemzug, ein Aufklaffen zwischen Stille und Möglichkeit, und plötzlich war das Gewicht meiner Sorgen leichter. In diesem Zwischenraum wusste ich, dass es eine Freiheit gibt, die nur dem Fliegen gleicht.

Wenn ich fliege, dehnt sich die Zeit.

Routinen werden zu entfernten Punkten, Stimmen zu einem fernen Murmeln. Fensterlichter werden verirrte Sterne, Felder zu Mosaiken, die sich unter mir wird neu geordnet. Fliegen ist kein blosses Entfernen von Boden; es ist ein Eintauchen in den Raum dazwischen, wo Entscheidungen klarer und Sehnsüchte unverstellter sind.

Manchmal brauche ich keine Flügel, nur Worte.

Ein Satz hebt mich, eine Metapher trägt mich, ein Gedicht setzt Wind unter meine Arme. Schreiben ist Fliegen in Gedankenform: Selbstzweifel lösen sich wie Morgennebel und was zuvor unmöglich schien, erhält eine Kontur. Sprache ist das Transportmittel, mit dem ich die Welt aus der Höhe betrachte und neu begreife.

Liebe hat mich auf- und abgestossen, sie hat mich taumelnd steigen lassen und schmerzhaft landen.

Fliegen in Zweisamkeit ist kein stilles Schweben, sondern ein wildes Steigen, das zwei Schwere zu Silhouetten macht. Auch die Landungen, so schmerzhaft sie sein mögen, tragen die Erinnerung ans Grosse: dass ich weiterging, über mich hinausging, ohne Besitzanspruch auf das Unfassbare.

Ich fliege, wenn ich die Stadt hinter mir lasse, wenn die Autobahn in einem Strich verschwindet und das Land sich wie eine offene Hand zeigt.

Ich fliege im Morgenkaffee, wenn das erste Licht die Tasse küsst und ein guter Plan sich wie ein klarer Pfad vor mir aufspannt. Ich fliege in der Stille eines Ateliers. Dort, wo die Dinge, die ich ordne, plötzlich ihre eigene Musik spielen.

Fliegen ist Haltung: nicht nur sehen, sondern wahrnehmen, nicht nur atmen, sondern ausatmen und Raum schaffen.

Und doch liebe ich den Boden.

Er ist nicht Gegensatz, sondern Referenz: die Landung lehrt Heimkehr, Verantwortung, die Kunst, Gesammeltes zu pflanzen. Die Balance zwischen Aufbruch und Ankommen ist die eigentliche Kunst des Fliegens. Die Landung zeigt mir, wofür die Höhe gut war.

Wenn ich anderen davon erzähle, nenne ich es Einladung statt Flucht.

Ich lade mich selbst ein, regelmässig aufzusteigen, um klarer zu sehen. Aus der Höhe werden Wege lesbar: welche Brücken tragen, welche Strassen enden, welche Felder neu bepflanzt werden wollen. Das Fliegen schenkt Perspektive, macht das Sichtbare bedeutungsvoll, weil ich es aus der Distanz sehe.

Am Ende des Tages bewahre ich die Flügel.

Sie sind oft unsichtbar: ein mutiges Wort, ein unvollendetes Gedicht, eine Reise ins Ungewohnte. Wenn die Welt mich wieder zu Boden zieht, öffne ich sie erneut. Dann gleite ich, forsche, falle vielleicht, stehe auf, um mit Geschichten zurückzukehren. Mit Blicken, die das Gewohnte neu beleuchten.

Nur Fliegen ist schöner — und genau deshalb fliege ich weiter.

Gabriela Lutz

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